Kinder blicken durch das Fenster auf eine Stadt
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Nutzungsmischung und Diversität bringen neue Quartiere hoch hinaus

In Großstädten wächst der Bedarf an Quartieren mit Nutzungsmischung. Doch der Platz ist oft zu knapp, um solche Projekte in der Fläche zu realisieren. Daher stellt sich die Frage: Können Stadtviertel auch vertikal funktionieren?

Text: Michael Gneuss 

Die Flächennutzung ist für Städte ein heikles Thema, denn ein Ende des Bevölkerungsanstiegs ist nicht abzusehen. Das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung hat 2019 die Einwohnerentwicklung in den 401 Kreisen und kreisfreien Städten in Deutschland bis 2035 berechnen lassen. Ergebnis: Auf dem Land sinkt die Zahl die Einwohner, aber in Berlin wird die Bevölkerung bis 2035 um elf Prozent steigen, in Hamburg sind es zehn Prozent.

Für Entwickler von Immobilienprojekten wie den Berliner Thomas Bestgen wird die Suche nach Baulücken darum immer anspruchsvoller – zumal er Quartiere bauen will. In einigen Teilen der Hauptstadt hat Bestgen damit bereits Erfahrungen gesammelt, so zum Beispiel mit dem Lokdepot in Schöneberg, in der Friesenstraße in Kreuzberg oder mit dem Quartier WIR in Weißensee.
Doch solche Flächen wird seine Firma UTB Projektmanagement künftig immer seltener finden – schon gar nicht in Kreuzberg, wo er mit seiner Familie viele Jahre gelebt hat.

Dort konnte er Pläne für eine Baulücke in der Nähe des Anhalter Bahnhofs entwerfen. Doch das Gelände war viel zu klein für ein Quartier herkömmlicher Art mit Nutzungsmischung. Nach Ansicht von Bestgen passte an diese Stelle ein Turm, der die Berliner Traufhöhe von 22 Metern deutlich überragen würde. „Darum stellte sich für mich die Frage, ob ein Quartier nicht auch in die Höhe entwickelt werden kann“, berichtet er.

Besprechung in einem offenen Raum
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Nutzungsmischung bedeutet nicht gleich Gemeinschaft: Hohe Anforderungen an vertikale Quartiere

Heute ist er sich sicher, dass die wesentlichen Merkmale eines Quartiers auch in einem Hochhaus mit geringer Grundfläche zu realisieren sind. Wobei Bestgen an den Begriff „Quartier“ hohe Anforderungen stellt: „Eine gemischt genutzte Immobilie ist noch lange kein Quartier“, erklärt er. „Das wird sie erst, wenn in und um das Gebäude gezielt für Gelegenheiten zur Begegnung der Nutzer gesorgt wird.“ Gemeinschaftsflächen wie Gärten, Räume für das Waschen und Trocknen der Wäsche, ein Raum für Fahrradreparaturen und vor allem Multifunktionsräume gehören aus seiner Sicht zu einem Quartier. Begegnungsmöglichkeiten entstehen aber auch schon, wenn die Briefkästen oder die Flächen für die Müllcontainer geschickt angelegt werden.

Diese Funktionen in die Höhe zu bringen, empfand Bestgen zunächst als große Herausforderung. Inzwischen glaubt er, mit dem „WoHo“ („Wohnhochhaus“), das bis 2025 am Anhalter Bahnhof entstehen könnte, eine Antwort gefunden zu haben. Der Multifunktionsturm soll zwischen 80 und 100 Meter beziehungsweise rund 24 Etagen hoch werden. Damit würden etwa 250 neue Wohnungen entstehen. Etwa 30 Prozent sind als Eigentumswohnungen geplant, 70 Prozent als frei finanzierte und soziale Mietwohnungen – durchmischt im gesamten Hochhaus: Sozialwohnungen sind für Bestgen auch in den oberen Etagen denkbar. Ein Drittel der Fläche ist für Gewerbe, Kreativwirtschaft und öffentliche Einrichtungen vorgesehen.

Zum Beispiel sollen eine Kita, eine Stadtbibliothek und ein Jugendclub ins „WoHo“ ziehen. Etwa vier Geschosse im Sockel sollen öffentlich zugänglich sein, ebenso stehen die gastronomischen Betriebe auf der Dachterrasse allen offen.

»Eine gemischt genutzte Immobilie ist noch lange kein Quartier.«

Thomas Bestgen - Geschäftsführer UTB Projektmanagement

Menschen warten vor einem Aufzug
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So schafft die Stadtverdichtung neue Chancen in Hochhaus-Projekten

Prof. Peter Schwehr, Leiter des Kompetenzzentrums für Typologie & Planung in Architektur an der Hochschule Luzern, sieht Chancen in Hochhaus-Projekten. Jedoch seien noch zahlreiche Herausforderungen zu bewältigen. „Das Bauen in die Höhe dient nicht zwangsläufig der Verdichtung in urbanen Räumen“, sagt Schwehr. Denn Verdichtung bedeute, dass mehr Personen auf einer geringeren Fläche wohnen. Heute würden in Hochhäusern oft aber große Wohnungen für wohlhabende Menschen geschaffen. „Wenn ein Hochhaus tatsächlich zur Verdichtung beitragen soll, muss es darin auch günstigen Wohnraum geben“, sagt Schwehr.

Die Hochschule Luzern sucht mit dem Projekt „Soziales Hochhaus“ nach Lösungen. „Wir wissen, dass Menschen kleinere Wohnungen eher akzeptieren, wenn es Gemeinschaftsräume gibt, die den fehlenden persönlichen Raum kompensieren.“ So könne auch einer Anonymisierung entgegengewirkt werden: „Man kann Verdichtung auch als Gestaltung von Nähe betrachten, anstatt darin nur eine Ansammlung und Stapelung von Menschen zu sehen“, sagt Schwehr. Weil die Anforderungen so vielschichtig sind, könnten solche Hochhäuser mit Nutzungsmischung nur interdisziplinär geplant werden: „In unseren Forschungsprojekten arbeiten wir deshalb häufig mit Expertinnen und Experten anderer Disziplinen wie der Gebäude- und Bautechnik oder der Soziologie zusammen.“

3 Dinge, die ein vertikales Quartier ausmachen

  1. Höhe: Als Hochhaus gilt ein Gebäude, in dem der Fußboden mindestens eines Aufenthaltsraums mehr als 22 Meter über der natürlichen oder festgelegten Geländeoberfläche liegt
  2. Begegnung: Ein Quartier hebt sich durch Flächen für Begegnungen ab. Das können Zonen auf jeder Etage wie Balkone, Terrassen oder sonstige Gemeinschafts­räume sein
  3. Nutzungsmischung und Diversität: Im gleichen Gebäude sind Wohnungen, Büros, Einzel­handel, Freizeitangebote, Kultur und öffentliche Ein­richtungen angesiedelt